Beitrag | Lesedauer 9 Minuten | Autorin Tanja Wirnitzer 

Audio | Dauer 11 Minuten | Sprecherin Jacqueline Belle

Quietscheglitterglitzrige Weihnachten in China

Soll ich es Ling sagen oder lieber nicht, grübelte Lara. Sie schlurfte im riesigen Gemeinschaftsgarten auf den schlangenförmigen Wegen. Vorbei an dem Piratenspielplatz und dem Drachenspielplatz und streifte mit ihrer Hand den kinderfausthohen Schnee vom Zaun. Hier in China lag nicht wie in Deutschland Puderzuckerschnee, sondern es sah aus, wie weiße Weihnachten aus dem Bilderbuch. 

„Der Weihnachtszauber muss ja an so vielen Orten zaubern. China ist vielleicht einfach zu weit weg.“

Der Weihnachtszauber muss ja an so vielen Orten zaubern. China ist vielleicht einfach zu weit weg. Aber das sagte sie Lings Papa nicht. Sie wollte seine Hoffnung nicht kaputt machen. Und wenn schon kein Zauber, dann kann ja immer noch ein Wunder passieren. 

In der Wohnung angekommen betrachtete Lara den vertrockneten Baum. Als er innerhalb weniger Tage vertrocknete, musste er vom Wohnzimmer auf den Balkon umziehen. 

„Der Baum sah so glücklich aus, wie der perfekte Weihnachtsbaum. Er war grün, wie die Augen der Eisprinzessin und er roch so gut, wie beim Waldspaziergang. Aber jetzt …“ Lara stockte. Auf dem Balkon stand ein dürrer, kahler, vertrockneter Baum. Er sah aus, als wäre Weihnachten längst vorbei. Sie fragte ihre Eltern

Warum ist er eigentlich so schnell vertrocknet?“ Ihr Vater antwortete: 

„Es ist hier drinnen zu heiß. Hier heizen sie nach Kalender und nicht nach Temperatur.“

Ihr Vater fuhr fort:

„Mit mehr Weihnachtsschmuck, also mit sehr, sehr viel mehr Weihnachtsschmuck, sieht der Baum nicht mehr traurig aus -sondern richtig lustig.“ Lara hob leicht den Kopf:

„Papa. Ich will aber keinen lustigen Weihnachtsbaum. Für Ling soll er schön sein. So schön, wie meine Weihnachtsbäume es immer waren.“ Nun versuchte die Mutter, Laura aufzuheitern:

„Dann kaufen wir einen Plastikbaum.“ Lara runzelte die Stirn:

„Mama! Ein Plastikbaum ist nicht gut für die Umwelt. Und gut riechen tun die auch nicht. Und das Schlimmste ist, die sind hier ganz anders geschmückt.“

„Was ist denn so anders?“, fragte der Papa.

„Man sieht kein Grün mehr. Sie sind quietscheglitterglitzrig und in so vielen Farben,“ dabei streckte Lara ihre Hände in einem weiten Bogen von sich, „so viele verschiedene Buntstifte habe ich nicht mal.“

„Ich dachte, dir gefällt das kunterbunte China?“, erkundigte sich die Mama. Das stimmte. Eigentlich war China für Lara ein gigantisch großer Freizeitpark. Straßen, Wohnanlagen und Spielplätze waren so bunt wie der Regenbogen. Alles war mit den chinesischen Buchstaben bemalt, die so aussahen wie Strichbilder. Meistens leuchteten und blinkten sie sogar. Überall war etwas los und alle Menschen freuten sich über Kinder. Nirgends musste man ruhig und leise sein. Das fand Lara ganz toll.

„Aber hier ist i m m e r so viel los,“ Lara seufzte „Ich will es mal so still und leise wie es in den Liedern heißt.“ Beide Eltern blickten Lara verständnisvoll an. Im Bett starrte Lara an ihre Sternenzimmerdecke. Sie dachte an den Weihnachtszauber und Wunder bevor sie einschlief.

Als die Familie Ling am nächsten Tag vor der Türe stand, hatten sie duftende, prall gefüllte Tüten in den Händen. Lara sah Lings Kopf gar nicht, denn aus seiner Tüte ragte die Spitze eines quietscheglitterglitzrigbunten Plastikweihnachtsbaumes.

„Wir brauchen Platz auf dem Boden. Messer, Schere, Kleber und alle Hände, die wir kriegen können“, sagte Lings Mutter. Lara konnte es nicht glauben. Es knisterte und raschelte als sie alles ausbreiteten: Gelbe Physalis mit den zarten Blättern, frische Orangen und Mandarinen, getrocknete Orangen, Nelken, Zimtstangen, chinesische Datteln, die in Minitüten verpackt waren – und natürlich den kleinen Plastikbaum. Lings Vater strahlte:

„Jetzt wird gebastelt!“

Alle saßen auf dem Boden. In die frischen Mandarinen und Orangen schnitzten sie Verzierungen und steckten Nelken hinein. Sie packten die chinesischen Datteln aus ihren Tüten. Heraus kamen nordchinesische Apfelbeeren. Sie sahen aus wie Äpfel, waren aber nur halb so groß wie Christbaumkugeln und in ihnen steckte eine Kastanie. Mit den Apfelbeeren und den getrockneten Orangen, dem Zimt, und den Physalis wollten sie den Baum dekorieren. Das durchsichtige Klebeband hielt aber nicht richtig und die ganze Zeit plumpste irgendetwas runter. Der Baum sah mehr nach Reparatur aus, als nach Weihnachten.

Da kam Lara eine Idee. Sie grinste, stupfte Ling an und deutete mit ihren Augen und der Nase in Richtung Küche auf den Schrank mit ihrem Lieblingsgetränk. Erst runzelte Ling fragend die Stirn, aber dann nickte er und lächelte zurück. Statt des Klebebandes nutzten sie koreanischen Honig-Ingwer-Zitronentee. Der klebte so gut, dass sie ihre Hände fast nicht mehr vom Baum losbekamen. Als sie fertig waren, klatsche Lara freudestrahlend in die Hände:

„Das hat richtig Spaß gemacht. Unser Baum sieht so toll aus! Und er riecht sogar nach Weihnachtsmarkt.“ Ling grinste sie an:

„Gibs zu, dir gefällt der Baum sogar besser. Quietscheglitterglitzrig wie die Eisprinzessin.“ Alle mussten lachen.

Nach dem Essen kam endlich die Bescherung. Lara war sehr froh, dass auch für Ling Geschenke unter dem Baum lagen, obwohl er noch nie Weihnachten gefeiert hatte. Daran hatte der Weihnachtszauber dann doch gedacht. Oder ein Wunder hatte ausgeholfen.

Nachdem alle Geschenke bestaunt waren, stand Ling auf. Er überreichte Lara und ihren Eltern jeweils einen roten Apfel mit Verzierungen. Die sahen so aus, wie die chinesischen Strichbilder.

 

Laras Vater freute sich sehr:

„Das ist ein alter Brauch. Früher wurden rote Äpfel in den Weihnachtsbaum gehängt.“, er klopfte Lings Vater auf die Schulter und sagte: „Da hast du dich gut informiert.“

Dieser schaute verdutzt und prustete los:

„Nein, das ist ein chinesischer Brauch am 24. Dezember. Die chinesischen Worte für Apfel und Frieden sind sehr ähnlich. Deshalb steht der Apfel in China für Frieden und zum Fest der Liebe schenken wir in China den Kindern einen mit Schnitzereien verzierten roten Apfel.“